Wenn man fest an die Demokratie glaubt, wird dieser Glaube schnell erschüttert, wenn es um Wahlen in Amerika geht. Normalerweise wählen die Wähler ihre demokratischen Vertreter. In den USA ist es umgekehrt: Die Vertreter wählen sich ihre Wähler selbst aus. Der spanische Kulturphilosoph Jose Ortega y Gasset brachte das wie folgt auf den Punkt: „Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundär.“
Für uns Kontinentaleuropäer ist es eigentlich selbstverständlich, dass wir das kriegen, was wir wählen: Wenn 40% der Bevölkerung eine Partei wählt, erhält die auch etwa 40% der Sitze. Natürlich gibt es auch bei uns verschiedene Faktoren die Parteien begünstigen oder benachteiligen können, wie etwa die 5-Prozent-Hürde. Aber dass eine Partei, die von einer Minderheit gewählt wurde, im Parlament die Mehrheit der Sitze erhält, kann in Deutschland eigentlich nicht passieren.
In den USA ist das nicht ungewöhnlich: 2016 hat nur eine Minderheit für Donald Trump gestimmt – am Ende hat er trotzdem gewonnen. Bei der Wahl 2000 hat George W. Bush rund 500.000 Stimmen weniger erhalten als Al Gore – Präsident wurde er trotzdem. Der Grund ist die Verzerrung der Stimmen durch das Electoral College. In diesem Beitrag soll es aber nicht um die Präsidentschaftswahl, sondern um die Wahlen zum U.S. House of Representatives. Zwischen 2011 und 2019 hielten die Republikaner hier die Mehrheit – obwohl sie teilweise deutlich weniger Stimmen erhalten haben als die Demokraten. Hier soll erklärt werden, wie es zu einem solchen Bias kommen kann und welche Bedeutung das für die Zukunft hat.
Redistricting – wichtiger als jede Wahl
Die überwiegende Zahl der 435 Abgeordneten im Repräsentantenhaus werden nach dem relativen Mehrheitswahlrecht gewählt (in manchen Staaten wird nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht gewählt, beispielsweise in Louisiana und Georgia. In Maine seit 2018 nach Instant-Runoff). Zur Einfachheit bleiben wir beim relativen Mehrheitswahlrecht als Grundform. Das Grundprinzip ist einfach. Die 435 Sitze des Repräsentantenhauses werden in Einer-Wahlkreise aufgeteilt. Der Kandidat mit den meisten Stimmen im jeweiligen Wahlkreis gewinnt die Wahl und zieht als Abgeordneter in den Kongress ein.
Alle 10 Jahre findet in den USA ein Zensus statt, bei dem die Bevölkerung neu gezählt wird – der aktuelle Zensus 2020 wird im Herbst abgeschlossen sein. Im Anschluss daran werden die 435 Sitze nach dem Hill-Huntington-Verfahren wieder neu auf die 50 Bundesstaaten nach ihrer Bevölkerungsgröße verteilt. Kleinere Staaten, wie North Dakota oder Vermont haben nur einen Kongresswahlbezirk. Für größere Staaten mit 2 oder mehr Bezirken werden die Kongresswahlbezirke im Anschluss neu zugeschnitten.
Dieser Redistricting-Prozess ist für den Ausgang der Wahl eigentlich entscheidender als die Wahl selbst. In den meisten US-Bundesstaaten sind die Staatsparlamente gemeinsam mit den Gouverneuren für die Einteilung der Kongresswahlbezirke zuständig. Der Neueinteilung wird also in den meisten Staaten politisch bestimmt.
Der Grund für die Bedeutung dieses Prozesses ist der Bias, der bei einem (relativen) Mehrheitswahlsystem auftreten kann. Eine Partei, die eine Minderheit der Stimmen erringt, kann trotzdem eine Mehrheit der Sitze erreichen, wenn sie in vielen Wahlkreisen knapp gewinnt und in wenigen Wahlkreisen hoch verliert. Solche Verzerrungen gab es auch in Deutschland schon. Beispielsweise bei der Bundestagswahl 1980. Da hat die SPD mit 44,5 Prozent der Erststimmen mehr Wahlkreise (127) gewonnen als die Unionsparteien zusammen (121), obwohl sie gemeinsam 46 Prozent der Erststimmen erhalten haben. In Deutschland ist das aufgrund des Personalisierten Verhältniswahlrechts allerdings nicht wahlentscheidend.
Wenn die Wahl allerdings mit Mehrheitswahlrecht durchgeführt wird, dann nimmt man bewusst in Kauf, dass eine Partei, die nicht die Stimmenmehrheit gewinnt, trotzdem die Mehrheit der Sitze gewinnen kann. Ein solcher Bias ist deshalb erstmal nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich und problematisch ist es nur dann, wenn man diesen Bias bewusst und aus politischen Gründen herbeiführt, um sich selbst Mehrheiten im Zweifel auch gegen die Bevölkerung zu verschaffen – dann spricht man von Gerrymandering.
Auf dem Bild ist der Bias einfach dargestellt: Die blaue Partei erhält 5 Stimmen aber nur einen Sitz. Die rote Partei erhält mit 4 Stimmen 2 Sitze, weil sie in zwei Wahlkreisen knapp gewinnt und im dritten hoch verliert.
Gerrymandering
Gerrymandering ist kein neues Phänomen. Seinen Ursprung hat er im frühen 19. Jahrhundert, als der damalige Gouverneur von Massachusetts, Elbridge Gerry, die Wahlbezirke in seinem eigenen Bundesstaat neu zugeschnitten hatte. Sein Ziel war es das durch den Neuzuschnitt möglichst viele seiner Anhänger ins Parlament gewählt werden sollten. Die Wahlbezirke nahmen dabei zum Teil absurde Formen an und vereinten Gebiete, die geografisch nichts miteinander zu tun hatten. Einer der neugeschaffenen Wahlbezirke schlängelte sich um Boston herum wie ein Salamander – damit war der Gerrymander erfunden.
Beim Gerrymandering unterscheidet man zwei Vorgehensweisen: Packing und Cracking. Beim Packing werden möglichst viele Kommunen zusammengefasst, die sehr stark zu einer Partei neigen, um eine Hochburg in einem Wahlbezirk zusammen zu packen. Beim Cracking werden werden Hochburgen gezielt auseinander dividiert und mit Hochburgen der anderen Partei in einen Bezirk gepackt, um sie politisch zu neutralisieren.
Seitdem haben Demokraten und Republikaner jahrzehntelang massives Gerrymandering betrieben, je nachdem wer aktuell politische Mehrheiten innehatte. In Texas hielten die Demokraten die Mehrheit im State House bis Anfang der 2000er Jahre, obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung längst Republikanisch wählte.
Nach dem Erdrutschsieg bei den Midterms 2010 hatten die Republikaner den Schlüssel in der Hand um viele Wahlbezirke, vor allen in den Rust Belt Staaten, neu einzuteilen. Die Resultate sind bis heute spürbar. Die Demokraten konnten ihre massiven Stimmengewinne 2018 in diesen Staaten kaum in spürbare Gewinne an Sitzen umwandeln. Es bleibt die Frage, ob solche machttaktischen Spiele beim Wahlrecht überhaupt mit der amerikanischen Verfassung in Einklang stehen. Eine klare Antwort darauf gibt es nicht. Viel entscheidender ist aus welchen Gründen Gerrymandering betrieben wird.
Partisan Gerrymandering vs. Racial Gerrymandering
Bei der letzten Wahl zum U.S. Repräsentantenhaus 2018 erhielten die Demokraten 53 Prozent der Stimmen, aber nur drei der acht Sitze. die Republikaner konnten mit lediglich 46 Prozent fünf Sitze gewinnen. Noch extremer stellt sich das bei der Verteilung im Wisconsin State Assembly dar. hier haben die Demokraten 2018 mit 53 Prozent der Stimmen lediglich 36 Prozent der Sitze gewonnen – ein Efficiency Gap von 17 Prozent.
Wisconsin hat eine überwiegend weiße Bevölkerung. Gerrymandering aus ethnischen Gründen ist hier normalerweise nicht möglich. Die Wahlbezirke wurden politisch so eingeteilt, dass die Republikaner strukturell immer eine klare Mehrheit der Sitze erhalten. Die Demokraten gewinnen haushoch in den beiden großen Städten, Madison und Milwaukee, und verlieren knapp in den vielen Vorstädten und ländlichen Regionen.
In keinem anderen US-Bundesstaat werden die Stimmen durch das Gerrymandering so stark verzerrt wie in Wisconsin. Dagegen haben die Demokraten 2014 Klage eingereicht. Trotz der massiven Verzerrung wies der U.S. Supreme Court im Fall Gill vs. Whitford die Klage im Juni 2018 zurück, weil die Antragsteller keine Verletzung individueller Rechte geltend gemacht hätten. Offen gelassen hat er lediglich, dass Gericht auf Bundesstaaten-Ebene eine andere Auffassung vertreten können.
Eine andere Haltung vertritt der Supreme Court beim sogenannten Racial Gerrymandering. In North Carolina mussten die Kongresswahlbezirke mehrmals neu eigenteilt werden, weil von der republikanisch kontrollierten Staatsregierung unzulässiger Weise Kommunen mit starker schwarzer Community in Wahlbezirke gepackt hatte, die von einer weißen Mehrheit deutlich kontrolliert wurden, sodass ein schwarzer Kandidat in diesen Bezirken keine Siegchance gehabt hätte.
What about Democracy?
Wenn man das alles liest kommt man schnell an einen Punkt, an dem man den Glauben an die Demokratie verliert. Denn eigentlich sollten doch die Wählerinnen und Wähler entscheiden, wer in den Parlamenten vertreten ist und nicht diejenigen, die die Wahlbezirke zuschneiden. Dass das in den USA aber leider nicht überall der Fall ist, zeigt dieser Atlas des Redistricting nochmal deutlich. Ohne, dass eine einzige Stimme anders abgegeben wird, kann das Ergebnis so verschieden ausfallen und selbst die Mehrheit sich radikal verändern.
Trotzdem gibt es auch noch Hoffnung für diejenigen, die an faire und transparente Wahlen in den USA glauben. Immer mehr Bundesstaaten legen das Redistricting in die Hände von unabhängigen Kommissionen. so werden beispielsweise die Wahlbezirke in Kalifornien, Arizona und Colorado von unabhängigen Experten oder Kommissionen, die mit Mitgliedern beider Parteien ausgeglichen besetzt sind, eingeteilt. Ein Trend der mehr und mehr zunimmt. Sollten die Demokraten 2020 wieder gewinnen, so bleibt die Hoffnung, dass sie die Wahlentscheidung wieder in die Hände der Wählerinnen und Wähler zurückgeben.
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