Morgenröte über den Fjorden

Zehn Jahre nach den Anschlägen von Oslo und Utøya sind die Wunden, die der Rechtsterrorist Anders Breivik in der norwegischen Gesellschaft hinterlassen hat, immer noch spürbar. Mancherorts mehr, mancherorts weniger. Im Fokus dieser Terrorattacke stand der damalige Premierminister Jens Stoltenberg und seine Partei, die norwegische Arbeiterpartei. Nur durch Glück ist Stoltenberg dem Bombenanschlag auf seine Staatskanzlei entgangen – er war bei einem Termin außerhalb, als die Bombe gezündet wurde. Für viele Jugendliche der AUF, der Parteijungend der Arbeiterpartei, die gerade im Sommerzeltlager waren, galt dies nicht. Sie wurden vom rechtsradikalen Breivik auf der Insel Utøya eiskalt erschossen.

Die schrecklichen Anschläge hatten aber auch politische Konsequenzen. 2013 wurde die Regierung von Jens Stoltenberg abgewählt. Ein wesentlicher Grund waren die Nachwirkungen von Utøya. Der Vorwurf, dass die Polizei zu zaghaft gehandelt habe und erst viel zu spät auf der Insel eingetroffen sei, war für die Arbeiterpartei, als größter Regierungspartei, eine schwere Hypothek. Dennoch hätte damals wohl kaum jemand in Norwegen geglaubt, dass sie nach der Niederlage bei der Wahl 2013 8 Jahre auf den Oppositionsbänken schmoren werde.

Iron Erna

Dass die Konservative Partei in Norwegen so lange die Regierung führen konnte, ist historisch. Seit 1933 gab es keine Periode, in der die Arbeiterpartei so lange in der Opposition war. Jeder Parteivorsitzende der Ap war auch mindestens eine Periode lang Premierminister. Das lag nicht zuletzt an der Regierungschefin Erna Solberg. Die konservative Politikerin mit dem Spitznamen „Iron Erna“ hat sich in den letzten Jahren im Land einen guten Ruf erarbeitet.

Mit dem Pragmatismus einer Angela Merkel und dem eisernen Willen von Margaret Thatcher hat sie Norwegen geführt und ist auch vor schwierigen Bündnissen und Entscheidungen nicht zurückgeschreckt. Anfangs regierte sie mit der populistischen Fortschrittspartei, seit Januar 2019 in einer Minderheitsregierung mit Liberalen und Christdemokraten. Jetzt ist ihre Ära vorüber und Jonas Gahr Støre, der Spitzenkandidat der Arbeiterpartei wird ihr aller Voraussicht nach im Amt folgen.

Wahl 2021: Rückkehr zur „Norwegischen Normalität“

Mit einem Ergebnis von 26,4 Prozent hat die norwegische Arbeiterpartei (Ap) die Wahl relativ klar gewonnen und stellt nunmehr 48 Sitze im Storting. Seit 1927 ist sie stärkste Kraft im Parlament. Das Ergebnis von 2021 ist das drittschlechteste in den letzten 100 Jahren. Trotzdem wird sie aller Voraussicht nach, den neuen Premierminister stellen. Die norwegische Arbeiterpartei hat das Selbstverständnis der Staatspartei in Norwegen im 20. und 21. Jahrhundert. Sie ist von allen Parteien am klarsten pro-Monarchie, pro-NATO und pro-EFTA. Gleichwohl hat sie ein sehr stark ausgeprägtes Profil für das Gemeinwohl. Ideologisch kann man sie wahrscheinlich am ehesten als Pendant zur Schmidt-SPD einordnen. Sie ist die einzige „echte“ Volkspartei in Norwegen, die sowohl in den Städten als auch in den ländlichen Regionen über eine relevante Wählerschaft verfügt. Ihre Hochburgen sind im Norden und in den ländlichen Regionen in Zentralnorwegen.

Was man über die Arbeiterpartei in den letzten 100 Jahren sagen kann, trifft auf die Konservative Partei höchstens auf das 19. Jahrhundert zu. Høyre (Rechts), die Konservative Partei in Norwegen, war in der Zeit des Parlamentarismus eher eine Oppositionspartei – oft sogar nicht einmal die größte Oppositionspartei im Rechten Block. Mit 20,4 Prozent und 36 Sitzen liegt sie bei dieser Wahl klar hinter Arbeiterpartei, trotzdem erreicht sie ein für ihre Verhältnisse ordentliches Wahlergebnis. Was ihre Grundausrichtung anbelangt ähneln sich die beiden großen Parteien sehr. Ähnlich wie Angela Merkel, hat Erna Solberg es in den letzten 8 Jahren geschafft, ihre Partei möglich nah in der Mitte zu platzieren und konnte so auch einen beträchtlichen Teil der Wählerschaft der Arbeiterpartei übernehmen. Die Hochburgen von Høyre sind in den wohlhabenden Städten – wie Bergen und Stavanger – und in den südwestlichen Küstengebieten. In Norden erzielt sie vielerorts Resultate, die nur knapp oberhalb der Sperrklausel liegen.

Zur drittstärksten Partei und zum Königsmacher wurde die Senterpartiet (Zentrumspartei) gewählt. Mit 13,5 Prozent erreicht sie 28 Sitze und wird entscheiden können, welchem Block sie damit zur Mehrheit verhilft. In den deutschen Medien wird diese Partei oft als „Grüne Partei“ bezeichnet – dies ist sie jedoch mitnichten. Am ehesten ist sie wohl mit den Freien Wählern vergleichbar. Sie setzt sich stark für Dezentralisierung, die Regionen und den ländlichen Raum ein. Entstanden ist aus einer Bauernbewegung. Mit viel Folklore ausgestattet hat sie klare populistische Wurzeln und steht von allen Parteien am Stärksten für Protektionismus und Euroskeptizismus. Dementsprechend erzielt sie ihre stärksten Ergebnisse vor allem in den ländlichen Gebieten. Historisch gesehen war sie bereits Teil von Mitte-Rechts und Mitte-Links-Regierungen. Voraussichtlich wird die Zentrumspartei jedoch eher eine Regierung mit der Arbeiterpartei bilden.

Einen bemerkenswerten Abstieg hat die viertplatzierte Fremskrittspartiet (Fortschrittspartei) hinter sich. Obwohl sie noch eine recht junge Partei ist, die erst in den 1970er Jahren gegründet wurde, schaffte sie Ende der 1990er Jahre einen bemerkenswerten Aufschwung und stieg zur zweitstärksten Partei auf. 2009 erreichte sie mit fast 23 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis, seitdem ging es bei jeder Wahl bergab. Mit 11,7 Prozent hält sie nun 21 Sitze und dürfte in der Regierungsbildung kaum eine Rolle spielen. Die Fortschrittpartei ist eine rechtspopulistische Partei mit einem für Norwegen ungewöhnlichen, sehr stark wirtschaftsliberalen Profil, vergleichbar mit einer Lucke-AfD. Ihre Hochburgen sind in Süd- und Mittelnorwegen.

Eine gewichtige Rolle in der neuen Regierung könnte die Sosialistisk Venstreparti (Sozialistische Linkspartei) spielen. Mit 7,5 Prozent und 13 Mandaten gehört sie zu den Wahlgewinnern. Die Partei wurde 1975 als Abspaltung der Arbeiterpartei gegründet und unterscheidet sich in der Sozialpolitik nicht so stark von den Sozialdemokraten. Anders als die Arbeiterpartei, will sie aber die Monarchie abschaffen und hat eine stark protektionistische und euroskeptische Ausrichtung. Sie ist eine klassische ökosozialistische Partei skandinavischer Prägung und hat ihre Hochburgen in den größeren Städten, besonders in Oslo.

Die kleineren Parteien werden für die Regierungsbildung wohl kaum eine Rolle spielen. Die linksradikale Rote Partei, sowie die ökoliberale Partei Venstre schaffen es knapp über die Sperrklausel und ziehen in Fraktionsstärke in den Storting ein. Die Grünen und Christdemokraten landen knapp unter der 4-Prozent-Hürde und erringen jeweils nur 3 Direktmandate.

Twist & Turns und ein sozialdemokratischer Wahlsieger

In der Mitte der Legislaturperiode wurde die Wahl in Norwegen als „Klimawahl“ eingeschätzt. Es ging darum, welche Partei die ehrgeizigste Umwelt- und Klimapolitik hatte und um den Ausstieg aus der Ölproduktion, auf der der Wohlstand des Landes beruht. Die Themenlage hat zwischenzeitlich zu einem Aufschwung der Grünen in den Umfragen geführt. Die norwegischen Grünen haben als einzige Partei 2035 als konkretes Enddatum für die Ölproduktion gesetzt. Die Mehrheit der Bevölkerung dürfte diesen schnellen Ausstieg aus der Ölproduktion wohl nicht geteilt haben und so führte Anfang 2020 die Konservative Partei noch die Umfragen an. Vieles sah nach einer dritten Amtszeit für Erna Solberg aus und sogar so als könne Høyre zum ersten Mal seit 1927 die Arbeiterpartei von ihrem Spitzenplatz verdrängen.

Dann kam Corona und hat die Ausgangslage ordentlich durcheinandergewirbelt. Die Regierung hat einen eher moderaten Kurs gefahren, ähnlich wie Dänemark: lange Zeit keine Maskenpflicht, eher „softe“ Lockdowns und einfaches Reisen innerhalb des Landes. Lediglich die Einreise ins Land wurde massiv verschärft. Lange Zeit hat sich dieser Kurs durchaus bewährt. Die Zahlen blieben moderat, die dünne Bevölkerungsdichte und das hohe Grundvertrauen der Bevölkerung in den Staat ließ Norwegen gut durch die Pandemie kommen. In vielen ländlichen Regionen mit kaum Infektionen wurden selbst diese Maßnahmen als zu strikt kritisiert, was zu einem demoskopischen Aufstieg der Senterpartiet führte, die sich als die Stimme der vermeintlich benachteiligten Menschen in den Distrikten sieht. Zum Jahreswechsel 2020/2021 war sie in verschiedenen Umfragen die stärkste Partei und erreichte bis zu 22 Prozent. Ihr Vorsitzender Trygve Slagsvold Vedum rief sich daraufhin zum Kandidat um das Amt des Premierministers aus.

Im Wahlkampf haben sich dann die Achsen wieder etwas verschoben. Trotz offensichtlicher Brisanz ist Klimaschutz eher wieder etwas in den Hintergrund gerückt, die Lockdowns waren vorbei und die Normalität kehrte zurück ins Land. Der Wahlkampf wurde von klassischen Themen bestimmt: Steuer- und Sozialpolitik, der Frage wie man mit den Einnahmen aus der Öl-Produktion umgeht und Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Diese Themenkonjunktur nutzt der Arbeiterpartei und so konnte sie sich Mitte des Jahres wieder, wie ein Phoenix aus der Asche, erheben und den demoskopischen Spitzenplatz erobern. Die Grünen, die Liberalen und die Sozialistische Linkspartei, die von der Themenkonjunktur profitiert hatten, mussten Federn lassen und die Zentrumspartei erlebte in den Umfragen einen regelrechten Absturz. Der Wahlsieg der Arbeiterpartei war die logische Konsequenz und der schon abgeschriebene Spitzenkandidat Jonas Gahr Støre (links) wird voraussichtlich der nächste Premierminister. Eine Regierung aus Arbeiterpartei, Zentrumspartei und Sozialistischer Linkspartei dürfte nun folgen.

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