6 Punkte, wie wir Grünen die führende Kraft der linken Mitte werden

Grüne Politik ist nicht einfach. Wir waren schon immer ein bunter Haufen, der sich gleichermaßen aus den Bürgerbewegungen der APO wie aus linken Sozialdemokrat*innen, sozialliberalen Ex-FDP-Leuten und konservativen Naturschützer*innen speiste: Die Grünen waren darum nie einfach nur die linke oder rechte Abspaltung einer Partei, sondern sie einte etwas Anderes: Sie waren der alten Bundesrepublik und ihrer festgefahrenen Diskurse überdrüssig. Gleichermaßen wollte das Bündnis 90 in der ehemaligen DDR sein Land mutig weiterentwickeln. Dieser Mut, es mit den alten Strukturen aufzunehmen, macht Bündnis 90/Die Grünen aus. Das verbindende Element ist: wir wollen Zukunft gestalten.

Als grüne Partei mit Regierungserfahrung und Regierungsverantwortung haben wir in ganz unterschiedlichen Konstellationen gezeigt, dass wir in der Lage sind, inhaltliche Angebote jenseits von „Zielgruppen“ zu machen. Die Verantwortung für die nachkommenden Generationen ist nicht an soziale Schichten oder Milieus geknüpft. Wir richten unseren Blick auf die gesamte Gesellschaft, nicht nur wie etwa die SPD oder die Linkspartei auf bestimmte Milieus, also die Industriearbeiter oder die prekär Beschäftigten und Arbeitslosen. Unter dem Leitmotiv der Nachhaltigkeit werden diese Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt.

Toni Hofreiter hat es nach seiner Wiederwahl gesagt und Tarek Al-Wazir hatte mit anderen gemeinsam bereits 2009 einen Antrag dazu formuliert: Wir Grünen sind die Führungskraft der linken Mitte. Aber wie sieht dieser inhaltliche Führungsanspruch aus? Wenn man ihn als den Anspruch, die führende progressive Kraft zu sein definiert, bedeutet das, dass wir Grünen die Modernisierungspartei in Deutschland sein müssen, ein Ideenmotor, eine Kraft, die Veränderungen entschlossen vorantreibt. Wenn andere Parteien versuchen, krampfhaft am Status Quo herumzudoktern oder sogar einem Zerrbild der Vergangenheit nachtrauern, dann muss es umso mehr unsere Aufgabe sein, ein Bild von der Zukunft, wie sie nach unseren Vorstellungen aussehen soll, zu zeichnen. Dafür sind sechs Punkte entscheidend:

1. Ökologische Frage ins Zentrum rücken

Der Klimawandel ist die zentrale Menschheitsfrage unserer Zeit und damit die größte politische Herausforderung weltweit. Das ist in der Breite der Bevölkerung angekommen –anders als bei den meisten Parteien. Bei einer Emnid-Umfrage gab im Juli 2016 die Mehrheit der Befragten an, dass ihre größte Angst der Klimawandel sei. Das zeigt eins: Die ökologische Frage ist kein Randthema mehr und sie ist in den Köpfen in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Dabei sind viele Menschen grüner als sie wählen. Das zeigt beispielsweise der aktuelle NRW-Trend: Im Mutterland der Braunkohle sprechen sich fast zwei Drittel der Befragten für einen schnelleren Kohleausstieg aus – auch eine Mehrheit der Anhänger von SPD, CDU und FDP.

Die ökologische Frage bewegt viele Menschen. Mit unserem Kernanliegen sind wir in weite Teile der Gesellschaft hinein anschlussfähig. Wenn es uns gelingt, unser Kernthema auf andere Bereiche zu übertragen, dann schaffen wir es damit sogar, noch breitere Wählerschichten anzusprechen. Dass das funktioniert, haben wir in den Ländern bereits bewiesen, etwa in Hessen bei der Frage der ökologischen Modernisierung der Wirtschaft, in Baden-Württemberg bei der Transformation der Automobilindustrie und einer Neuausrichtung unserer Mobilität oder der Frage, wie wir Digitalisierung als Chance nutzen können, Ökologie und Ökonomie zu versöhnen, wie in Schleswig-Holstein.

Diese Frage gehört zur DNA unserer Partei wie keine andere. Hier haben wir mit Abstand die größte Kompetenz. Nur wenn wir diese Frage als grünes Alleinstellungsmerkmal weiterhin konsequent ins Zentrum rücken und zeigen, dass wir die Einzigen sind, die es mit der Bekämpfung des Klimawandels ernst meinen, werden wir auf Dauer erfolgreich sein.

2. Gesellschaftliche Modernisierung konsequent vorantreiben

Grüne sind im politischen Koordinatensystem der Pol für eine offen-selbstbestimmt Gesellschaft – etwa bei der Gleichstellung von Frauen, bei der Ehe für Alle oder bei der Integration von Menschen, die nach Deutschland eingewandert sind. Mit der AfD gibt es jetzt auch einen Antipol, der die vielen gesellschaftlichen Modernisierungen, die Grüne erreicht haben, wieder zurückdrehen will und für eine geschlossen-autoritäre Gesellschaft steht, wie wir es aus anderen europäischen Ländern wie Polen oder Ungarn kennen. Zuletzt gab es auch aus den Unionsparteien, insbesondere der CSU, Vorstöße, die in eine ähnliche Richtung gingen.

Für uns Grüne darf es dabei nur einen Weg geben: Wir dürfen diesen Pol nicht aufgeben und müssen die Modernisierung unserer Gesellschaft konsequent weiterführen. Dabei reicht es nicht aus, die AfD doof zu finden oder auf die CDU/CSU einzuschlagen. Vielmehr müssen wir unsere eigene Vision darüber, wie gutes Zusammenleben in einer vielfältigen und aufgeschlossenen Gesellschaft funktionieren kann, in den Vordergrund stellen.

3. Mit Zukunftsthemen durchdringen

Eine Jamaika-Koalition hätte ein Projekt sein können, dass die großen Zukunftsfragen angeht und Antworten gibt, die sich auch an kommende Generationen richten. Stattdessen hat sich die FDP früh entschlossen, dass sie für ein solches Zukunftsprojekt nicht zur Verfügung stehen möchte. Das Abschlusspapier der GroKo-Sondierungen liest sich dagegen wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Statt eine gemeinsame Idee für die kommenden Generationen zu entwickeln, haben sich CDU, CSU und SPD auf das lustlose Abarbeiten von einigen Spiegelstrichen verständigt. Wichtige Zukunfts- und Innovationsthemen wie Start-Up-Förderung, Digitalisierung und Forschung kommen gar nicht vor oder werden nur am Rande gestreift.

Für uns Grüne heißt das: Wenn wir eine inhaltliche Führungsaufgabe wollen, brauchen wir große Ideen für die drängenden Zukunftsfragen. Statt die Menschen in Agenda-Befürworter*innen und -Gegner*innen einzuteilen, wie die SPD das tut, oder Hartz IV einfach generell blöd zu finden, wie die Linke das tut, sollten wir uns nicht mit solchen Debatten der Vergangenheit beschäftigen. Anstatt an der Agenda 2010 herumzudoktern, sollten wir uns lieber überlegen, wie eine Agenda 2030 aussehen könnte. Das gilt insbesondere für das Rentensystem. Die GroKo schürt mit ihrer Politik einen Generationenkonflikt. Der Slogan „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“ ist so aktuell wie eh und je, aber er ist nicht nur in der ökologischen Frage zentral, sondern auch in der sozialen. Wir Grüne sollten immer die Anwältinnen und Anwälte der kommenden Generationen sein und auch hier eine generationengerechte Idee als Alternative zur GroKo-Politik nach vorne stellen.

4. Offene Flanken schließen

Zu einer inhaltlichen Führungsrolle gehört aber auch, dass wir Angebote bei Themen machen, die nicht zum klassisch-grünen Themensortiment gehören, wie beispielsweise der Inneren Sicherheit. Wir Grüne werden mit diesem Thema keine Wahl gewinnen, wir können damit aber Wahlen verlieren.

Sicherheit ist ein Bedürfnis für viele Menschen und es ist eine Kernaufgabe des Staates, sie sicherzustellen. Hier hat sich die Rolle unserer Partei etwa im Verhältnis zur Polizei grundlegend verändert. In den letzten Jahren waren es oft grüne Landesregierungen, die Polizeistellen aufgestockt haben, nachdem die CDU in den Jahren davor Stellen abgebaut hatte. Es ist gut und richtig, dass wir diesen Weg konsequent weitergehen und den Menschen in diesem Land zeigen: Wir nehmen euer Sicherheitsbedürfnis ernst, verfallen aber nicht in blinden Aktionismus und versuchen stets die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu wahren.

5. Anschlussfähig nach außen bleiben und Menschen dort abholen, wo sie stehen

Eine unserer größten Stärken war seit jeher, dass wir im Gegensatz zur Sozialdemokratie nicht auf eine reine Staatsgläubigkeit vertrauen, sondern zivilgesellschaftliches Engagement fördern und den Bürgerinnen und Bürgern mit ihren Anliegen Raum geben. Wir sind als Bewegungspartei entstanden und stets Bewegungspartei geblieben. Wir werden immer kontrovers über Themen und Personalfragen streiten, aber sollten vor allem unsere inhaltlichen Debatten nicht als Binnendebatten führen, so wie wir es hin und wieder auf Bundesversammlungen getan haben. Es gibt so viele Verbände und Organisationen, die unseren Ideen gegenüber aufgeschlossen sind. Gehen wir raus und sprechen mit ihnen. Auch wenn das manchmal mühsam ist, es ist wichtig und geht uns alle an – nicht nur die Regierungsmitglieder, MdBs und MdLs, sondern auch unsere Räte und Vorstände.

Lassen wir uns diese große Chance nicht entgehen und holen die Menschen dort ab, wo sie sind, und nicht dort, wo wir sie gerne hätten. Das heißt aber auch, dass wir eine Sprache sprechen sollten, die die Menschen verstehen. Wir sind in der Bringschuld und haben die Aufgabe unseren „Parteisprech“ so zu übersetzen, dass auch klar wird, was wir wollen. Es kann uns nur nützen, wenn wir es schaffen anschlussfähig an die Zivilgesellschaft, beispielsweise die vielen Naturschutzverbände, Kirchen, Sport- und Musikvereine, zu sein.

6. Die Besten nach vorne und die Gremien ausgewogen besetzen

Unsere Kommunikation als Partei und die Besetzung unserer Spitzenämter war darum immer von einem Spagat geprägt: Einerseits sollte die inhaltliche Tiefe der Parteidebatten Widerhall finden und die Flügel gleichermaßen repräsentiert sein, andererseits Forderungen, die die Wählerinnen und Wähler im Alltäglichen bewegen, im Vordergrund stehen und unsere beliebtesten Politiker*innen für uns sprechen. Zu oft wurden dabei aber die Guten und Qualifizierten der Arithmetik geopfert, aus Angst ein Flügel, ein Landesverband oder eine Gruppe könnten unverhältnismäßig dominant sein.

Die Ergebnisse für den neuen alten Fraktionsvorstand zeigen aber auch, dass ein relevanter Teil der Bundestagsfraktion ein „Weiter so“ entlang der Flügelarithmetik nicht möchte. Viele MdBs haben sich zudem gewünscht, dass unser profiliertester Bundespolitiker Cem Özdemir die neue Fraktion führt. Unsere Abgeordneten brauchen Räume, um eigenständige Konzepte zu entwickeln mit denen wir als Partei als Ideenmotor wahrgenommen werden können. Vor der rot-grünen Koalition auf Bundesebene war unsere Fraktion schon so weit und hat durch viele mutige Vorstöße von Abgeordneten, wie beispielsweise Joschka Fischer in der Außenpolitik, den Weg zur Regierungsfähigkeit geebnet.

Es wird Zeit, einen neuen Weg zu beschreiten, der hier keine Widersprüche mehr konstruiert. Wir müssen uns darüber klarwerden, dass wir als gesamte Partei nur gewinnen, wenn an der Spitze die beliebtesten, profiliertesten und angesehensten Köpfe stehen. Dabei kann nicht immer jede Gruppe in der Partei repräsentiert werden. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass unsere Gremien die Breite der Partei repräsentieren.

Dabei braucht es selbstverständlich auch weiterhin Flügel. Denn Parteien leben vom Meinungspluralismus, internen Debatten und manchmal auch zähem Ringen um eine gemeinsame Position.

Flügellogiken und Proporzdenken dürfen jedoch in inhaltlichen sowie personellen Debatten nicht überhandnehmen. Sie dürfen dem Ziel, neue Ideen für das Land zu entwickeln und diese mit bestmöglicher personeller Besetzung umzusetzen, nicht im Weg stehen. Wir brauchen Parteiflügel als inhaltliche Think Tanks und Impulsgeber ebenso wie für die Strukturierung von Debatten und die Förderung der Personalentwicklung. Die Qualität eines Vorschlags, sei es ein inhaltlicher oder ein personeller, darf jedoch keines Falls nur aufgrund von Proporzlogik beurteilt und dieser am Ende untergeordnet werden.

In den letzten Jahren haben wir als Grüne genau das zu oft getan. Bei dem Versuch, jede Debatte paritätisch zu führen und Gremien in jedem Fall paritätisch zu besetzen, sind innovative Entwürfe und die Qualität einzelner Personen zu oft in den Hintergrund gerückt. Statt zu fragen, wer an welcher Stelle am besten für uns streiten und kämpfen kann, um grüne Zukunftsfragen mehrheitsfähig zu machen und umzusetzen, waren wir mit uns selbst beschäftigt und haben parteiinterne Debatten zu oft in den Vordergrund gestellt.

Wir haben auf dem kommenden Parteitag die Chance, das hinter uns zu lassen und bei allen internen Streitigkeiten, von denen unsere Partei lebt wie keine andere, ein Personaltableau an die Spitze zu wählen, das für Aufbruch und Erneuerung steht. Wir müssen die Flügel selbst nicht überwinden, aber wir müssen das starre Proporzdenken überwinden, mit dem wir uns so oft selbst im Weg stehen.

Denn wenn wir es schaffen, die inhaltlich führende Kraft der linken Mitte zu werden, ist die logische Konsequenz, dass sich das auch in den Wahlergebnissen wiederspiegelt. In Baden-Württemberg haben wir das 2011 und 2016 bereits geschafft, in Hessen können wir in diesem Jahr für eine Fortsetzung der erfolgreichen Regierungsarbeit kämpfen und in Bayern besteht die realistische Chance, die SPD hinter uns zu lassen und die zweitstärkste Kraft zu werden. Also packen wir es an.

 

Über die Autor*innen:

Sarah von Hagen (22, @sarah_vha) studiert Geschichte in Göttingen und war 2016 bis 2017 Landesvorsitzende der Grünen Jugend Hessen.

Bennet Müller (28, @bennet_mueller) ist Volljurist und seit 2013 Mitglied im Landesvorstand der baden-württembergischen Grünen.

Marcel Rohrlack (21, @mrohrlack) studiert Soziologie in München und war von 2015-2017 Sprecher der Grünen Jugend München.

Erschienen bei der Huffington Post: http://www.huffingtonpost.de/entry/6-punkte-wie-wir-grunen-die-fuhrende-kraft-der-linken-mitte-werden_de_5a65dc0de4b0dc592a0a9dde?rc

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